Gerd Ueding hat Klassiker befragt

Christina
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Gerd Ueding hat Klassiker befragt

Beitrag von Christina »

Vielleicht von Interesse?
Dieser Artikel ist heute in "Die Welt" erschienen. Auch zwei von Mays "Entführungen" aus den Orient-Reiseerzählungen werden erwähnt.

Entführung, leicht gemacht
von Gert Ueding

Verführen und Entführen hängen etymologisch eng zusammen, beide Verben sind, wie man im Grimmschen Wörterbuch nachlesen kann, Übersetzungen des lateinischen transferre oder seducere und bedeuten: an einen anderen, an den falschen Ort bringen. Der Zusammenhang ist auch in vielen, vielleicht den meisten Entführungsgeschichten der Weltliteratur aufbewahrt. Wen Zeus entführt, ob die Königstochter Europa von Tyros nach Kreta, oder den Prinzen Ganymed auf den Olymp - die Entführung an den "falschen" Ort ist jedesmal das Ziel der Verführung, und die mythischen Geschichten erinnern tatsächlich an Volkssitten und religiös oftmals sanktionierte Gebräuche aus frühgeschichtlicher Zeit.

Zeus machte den Anfang
Der Vorrang von Geschlecht und Familie vor den Bedürfnissen des Einzelnen, die Unterordnung unter alle Erfordernisse, die das Überleben des Stammes sichern, schließlich der Frauenraub zum Zwecke der Heirat, das sind wohl die ursprünglichen sozialen Motive, die sich im Mythos widerspiegeln. Ihre Spuren finden sich oftmals an überraschender Stelle wieder. Etwa in Lessings Drama "Emilia Galotti", dessen Hauptstoßrichtung zwar die feudale Mätressenwirtschaft ist, doch auch noch sehr viel ältere Schichten zur Sprache kommen läßt; vor allem in jener berühmten Szene, in der Emilia ihren Vater um den Dolch bittet, um sich durch Selbstmord der drohenden Gefahr zu entziehen: "Was Gewalt heißt, ist nichts. Verführung ist die wahre Gewalt. - Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine... Ich stehe für nichts... Ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude."

Beinah hundert Jahre später können wir diese frühen Spuren sogar an ganz anderer, verwunderlicher Stelle wiederaufnehmen, in Coopers Roman "Der rote Freibeuter". Eine reiche Erbin samt ihrer alten Erzieherin sind dem Korsaren in die Hände gefallen, und die Reize des jungen Mädchens bewegen den Freibeuter sogar zu "tiefster Huldigung". Als ihnen unvermutet die Freiheit winkt, erklärt die Gouvernante: "Unser Geschlecht kann nur unter dem Schutz der Gesetze wahre Sicherheit finden."

Der Abenteuerroman trat auch in diesem Punkt die Erbschaft des alten Heldenepos' an, in welchem Entführung und Verführung spätestens seit Paris und Helena eng miteinander verquickt waren. Cooper bietet auch sonst die beredsten Beispiele. Unvergessen die dramatische Szene, als die Schwestern Cora und Alice mitsamt ihrem Beschützer in die Hände der Huronen fallen, deren Häuptling ihnen die Freiheit zurückgeben will - um den Preis, "daß ich ihm in die Wildnis folge, mit ihm zu den Behausungen der Huronen gehe und dort bleibe: kurz, daß ich sein Weib werde." Es versteht sich, daß die übrigen Gefangenen entsetzt abwehren: "Der Gedanke schon ist schrecklicher als tausendfacher Tod!" Natürlich kommt Rettung, bevor die unselige Alternative ernst wird. Christlich-puritanische Moral setzt die Grenzen und wie das Mittelalter seine Heiligen Jungfrauen durch Tod oder Entrückung dem Zugriff heidnischer Wollust entzog, so taucht im Abenteuerroman rechtzeitig stets ein Ritter oder später ein bürgerlicher Held auf, um das Schlimmste zu verhüten.

So unvergeßlich wie die Rettung Coras und ihrer Begleiter durch Lederstrumpf und die beiden "Letzten der Mohikaner" ist natürlich die Befreiung Senitzas aus dem Harem Abrahim-Mamurs, wohin ein schurkischer Armenier sie verschleppt hat, so schildert es Karl May in "Durch die Wüste". Auch hier gelingt die Rettung natürlich bevor Senitzas Unschuld ernstlich gefährdet ist. Aus der Perspektive der alten Heldenepen werden diese Entführungsgeschichten durchsichtig auf die Triebdramatik, die die christliche Moral erzeugt hat. Lessings Emilia ängstigte sich davor buchstäblich zu Tode.
Zuletzt geändert von Christina am 18. Feb 2006, 20:03, insgesamt 3-mal geändert.
Christina
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Beitrag von Christina »

Teil 2:
In einem anderen Klassiker der Abenteuer-Kolportage, freilich an ihrem arg trivialen Ende, hat Edgar Rice Burroughs, mit seinem "Tarzan" eine Entführungsvariante geschaffen, die sich bis heute als suggestiv und bildkräftig erwiesen hat. Jane ist durch den riesigen Menschenaffen Terkoz entführt worden: "Dieses unbehaarte, weiße Affenweibchen würde das erste seiner neuen Familie sein... Die Bestie schleppte sie mit einer, wie ihr (Jane) schien, phantastischen Geschwindigkeit durch den Wald, aber noch schrie sie nicht und wehrte sich auch nicht." Die Ungeheuer der Leidenschaft sind hier auch wirklich welche, wie gut, daß mit Tarzan ein halbwegs zivilisierter Zwillingsbruder auftaucht, der dem Rivalen die schöne Raubbeute mit Erfolg streitig machen kann.


Der Spötter Voltaire hat dergleichen rührende Entführungsgeschichten, die schon der berühmte englische Autor Richardson zu Bestsellern des 18. Jahrhunderts gemacht hatte (die Bestie spielte darin natürlich der aristokratische Wollüstling), satirisch auf die Spitze getrieben. Im berühmten "Candide" schildert die vom Titelhelden geliebte Kunigunde, wie sie von einem "gutgewachsenen" bulgarischen Hauptmann entführt und von ihm schließlich an den "Juden namens Don Isaschar" verkauft wurde, der sie sich mit dem Großinquisitor teilte: und zwar gehörte sie Don Isaschar "für Montag, Mittwoch und für den Sabbat, dem Inqisitor für die übrigen Tage der Woche". Kunigunde erklärt die Moral von der Geschicht': "Eine ehrenhafte Frau kann wohl einmal geschändet werden, doch wird ihre Tugend dadurch nur gefestigt."


Ab wann Entführungen ihre Beweggründe entscheidend wechselten, sei dahingestellt. Die Literatur ließ immer schon Nebengründe anklingen. Bewegt doch der Seher Kalchas den "weitherrschenden Agamemnon", der sich die schöne Chryseïs angeeignet hat, die Beute dem Vater zurückzugeben "ohne Kaufpreis, ohne Lösung" - wenn denn der Feldzug gegen Troja Erfolg haben soll. Auch Rangfragen, also politische Erwägungen, spielen schon eine Rolle: Helena ist dafür das leuchtendste Beispiel. Das Mittelalter jedenfalls kultivierte Entführungen aus politischen Gründen, die Opfer waren politische Gegner, die man derart zu erpressen suchte.


Oswald von Wolkenstein, wehrhafter Gefolgsmann König Sigmunds und Poet dazu, wurde mehrmals Opfer von Entführung. Wie ihm einmal durch "ruhmvolles Wirken meines Liebchens" böse mitgespielt wurde, schildert er in einem Liede: ",Umsichtige Liebe braucht ihre Mittel.' - deshalb wurde ich behutsam mit den Füßen an einer Stange hochgezogen. Ihr Herz begehrte viertausend Mark und Hauenstein (Oswalds Burg); es war für sie ein Vergnügen... als mich der Schmerz am Seil aufschreien ließ."

Christen nehmen nichts
Im Orient hat die Entführungspraxis nicht nur eine lange, sondern auch eine besonders langanhaltende Geschichte. Manches Märchen aus Tausendundeiner Nacht berichtet davon, wenn auch die Entführer (wie in "Aladin und die Wunderlampe") oft böse Geister und Dämonen sind. Wer sich darüber informieren möchte, wie die Verhältnisse in dieser Hinsicht zwischen Bagdad und Stambul liegen, ist mit dem einschlägigen Band aus Karl Mays Orient-Reise-Roman immer noch hinreichend gut bedient. Kara Ben Nemsi hat Mohammed Emin und Amad el Ghandur, zwei befreundete Haddedihn, aus den Händen der Bebbeh-Kurden befreit und statt dessen den Bruder ihres Scheichs entführt. Der fragt sofort: "'Welches Lösegeld verlangst du?'" Darauf Kara Ben Nemsi: ",Ihr wolltet für diese beiden Männer' - ich deutete auf die Haddedihn - "Lösegeld verlangen; ihr seid Kurden: Ich nehme nie ein Lösegeld, denn ich bin Christ.'" Später wird er zwar auch den Bebbeh-Scheich selber als Geisel nehmen, doch nur der eigenen und seiner Gefährten Sicherheit wegen. Übrigens spielt auch, wie oft bei Karl May, ein verräterischer Führer eine verhängnisvolle Rolle, der die ihm Anvertrauten geradewegs ins Verderben lockt. Das Leben spielt, wenn auch nicht buchstäblich, die Literatur öfter nach als umgekehrt.
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