Entsetzt über "Der Derwisch"

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SirDavid
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Entsetzt über "Der Derwisch"

#1 Beitrag von SirDavid »

Liebe Mitforianer,

kurz darf ich mich vorstellen. Bin aus Österreich - und Karl May war die vielleicht jene literarische Größe, die meine Jugendzeit am intensivsten geprägt hat. Schon früh las ich Sekundärliteratur und wurde auf die prekäre Situation hinsichtlich der Münchmeyer-Romane aufmerksam; irgendwie schien mir das Thema aber in einer nicht mehr weiter befahrbaren Sackgasse angekommen, sodass ich von einer weiteren Befassung damit Abstand nahm.

Immer schon hat mich die Diskussion rund um die Bearbeitung(en) bzw. um die Bearbeitbarkeit der Mayschen Kolportageromane interessiert. Nun, nach vielen Jahren habe ich erstmals einen Textvergleich zwischen GW 61 "Der Derwisch" und dem Reprint der Erstausgabe von "Deutsche Herzen – Deutsche Helden" angestellt, und zwar nur für die ersten paar Seiten.
Ich muss gestehen: Ich bin entsetzt darüber, was der KMV da getan hat. Seitenweise (!) Text, der bei May nicht zu finden ist.
Bd. 60 "Allah il Allah" (heutzutage wohl ein Reiztitel angesichts der politischen Entwicklungen rund um den Erdball) hat mir immer sehr gefallen, obwohl da wohl Ähnliches (oder noch Tiefgreifenderes) veranstaltet wurde.

Einerseits finde ich die Originalfassung (den Erstdruck) tatsächlich langatmig und holprig - und wünsche mir eine gute Bearbeitung dieser überlangen Romane. Andererseits bin ich empört über das "Neuschreiben", welches der KMV unternommen hat.

Gibt es denn keinen Mittelweg?

May hat doch meines Wissens selber eine Episode aus dem "Waldröschen" herausseziert und in seinen "Old Surehand" eingepflanzt. Von daher finde ich die Herauslösung eines einzelnen Handlungsstranges nicht schlimm. Was ich an den KMV-Bearbeitungen heftigst kritisiere, ist schlicht der fehlende Respekt vor den Ausgaben letzter Hand. Die (gewiss noch ungeschliffenen) Mayschen Text als Degustationskammerl für verlegerische Phantasien zu missbrauchen - so etwas kann ich nicht gutheißen.

Einen Lord Eaglenest in den bekannteren Sir David Lindsay zu verwandeln ist die eine Sache. M.E. schadet sie dem Roman aber weit weniger als die seitenlangen Hinzufügungen von Nicht-May-Texten. Gewisse Wortänderung sind ebenfalls fragwürdig. Bei May steht "Nationen", in den GW steht "Rassen". Bei May steht "karriert", in den GW steht "gewürfelt". Das ist doch keine Verbesserung.

Mich würden eure Meinungen zu diesem Thema brennend interessieren.

Viele Grüße
Sir David

Rüdiger

Re: Entsetzt über "Der Derwisch"

#2 Beitrag von Rüdiger »

Im Fall von "Allah il Allah" und "Der Derwisch" finde ich die Bearbeitungen durchaus reizvoll.
In den Fällen ist es klar, daß ein Maytext frei umgeformt wurde.

Weitaus ärgerlicher finde ich die "unauffälligeren" Bearbeitungen in den Reiseerzählungen ... In dem Fall wissen die meisten nämlich nicht, daß Mays Texte anders aussehen ... und halten die grünen Bände für die Originale ... oder glauben, es gehe bei den Bearbeitungen lediglich um veraltete Schreibweisen u.ä, was eben nicht der Fall ist ...

SirDavid
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Re: Entsetzt über "Der Derwisch"

#3 Beitrag von SirDavid »

Das ist gewiss ein weiterer Aspekt, der Diskussion durchaus würdig.
Ich selber bin ja mit den - meines Wissens noch stärker bearbeiteten - Bänden des Bertelsmann-Verlages ausgewachsen, bearbeitet von einem gewissen Peter Korn. Allerdings gab es in dieser Reihe anscheinend keine Bearbeitungen der Kolportageromane...

Rüdiger

Re: Entsetzt über "Der Derwisch"

#4 Beitrag von Rüdiger »

SirDavid hat geschrieben: Ich selber bin ja mit den - meines Wissens noch stärker bearbeiteten - Bänden des Bertelsmann-Verlages ausgewachsen
Diese Bände sind in der Tat zum Auswachsen ...

:-)

SirDavid
Beiträge: 16
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Re: Entsetzt über "Der Derwisch"

#5 Beitrag von SirDavid »

Gelesen haben sie sich gut... aber damals hatte ich noch keine Ahnung.
Bei einem späteren Vergleich mit den GW kam mir vor, als wäre die Bertelsmann-Ausgabe eine Bearbeitung der GW. :D

Rüdiger

Re: Entsetzt über "Der Derwisch"

#6 Beitrag von Rüdiger »

SirDavid hat geschrieben: Gelesen haben sie sich gut... aber damals hatte ich noch keine Ahnung.
So ging's mir mit den GW ...

(ich war über vierzig als ich erfuhr daß das Bearbeitungen sind ...)
SirDavid hat geschrieben: Bei einem späteren Vergleich mit den GW kam mir vor, als wäre die Bertelsmann-Ausgabe eine Bearbeitung der GW. :D
Durchaus möglich ...

SirDavid
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Re: Entsetzt über "Der Derwisch"

#7 Beitrag von SirDavid »

Bisschen offtopic, aber: Was ist am Titel "Allah il Allah" besser als an "Die Königin der Wüste"?
So eine Titelwahl erschließt sich mir wiederum nicht...

Rüdiger

Re: Entsetzt über "Der Derwisch"

#8 Beitrag von Rüdiger »

Die Steigerung ist "Am Marterpfahl" für Band 83 ...

:-)

Band 64 "Das Buschgespenst" ist auch so ein spezieller Fall ...

Herauslösung eines in sich geschlossenen Teils aus einem mehrbändigen Großroman: ok.

"Aufpeppen" der Dramatik durch "Gespenstereien", die es so im Original nicht gibt, fragwürdig aber wenn man so will auch noch ok.

Willkürliche stilistische Textänderungen: nicht ok.

Glättung, gefälliger machen, abmildern: nicht ok.

SirDavid
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Re: Entsetzt über "Der Derwisch"

#9 Beitrag von SirDavid »

Ich weiß nicht. Bei Mays DHDH las ich ellenlange Dialoge, die die Handlung eigentlich keinen Millimeter voranbrachten. Da mal eine Streichung anzubringen, fände ich nun nicht abwegig...
Da stört mich das Einfügen ganzer Passagen weit mehr. Gerade das erste Kapitel von "Eine deutsche Sultana" (DHDH 1) liest sich bei May m.E. flüssiger (und überzeugender) als im "Derwisch".

Rüdiger

Re: Entsetzt über "Der Derwisch"

#10 Beitrag von Rüdiger »

Streichungen waren ja gar nicht thematisiert, insofern sehe ich jetzt den Bezug nicht.

Und die Geschmäcker sind verschieden, gerade das von Kandolf zugefügte Eingangskapitel gefällt mir im "Derwisch" ...

Der Ölprinz
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Re: Entsetzt über "Der Derwisch"

#11 Beitrag von Der Ölprinz »

SirDavid hat geschrieben:
Mich würden eure Meinungen zu diesem Thema brennend interessieren.

Viele Grüße
Sir David
Hallo, über Sinn oder Unsinn einzelner Sätze und Wörter lässt es sich sicherlich prima streiten...

Grundsätzlich finde ich die Bearbeitungen der Kolportageromane durch den KMV sehr gelungen (Habe mittlerweile alle gelesen, bei den Originalen habe ich in der Regel zwischendrin aufgegeben...).
Bei den Reiseerzählungen dagegen sind die Bearbeitungen völlig unnötig.

Mein (natürlich subjektives) Fazit:
Reiseerzählungen möglichst im Original besorgen. Kolportageromane vom KMV lesen.

Gruß

Der Ölprinz

Rolf Dernen
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Re: Entsetzt über "Der Derwisch"

#12 Beitrag von Rolf Dernen »

SirDavid hat geschrieben:Gelesen haben sie sich gut... aber damals hatte ich noch keine Ahnung.
Bei einem späteren Vergleich mit den GW kam mir vor, als wäre die Bertelsmann-Ausgabe eine Bearbeitung der GW. :D
Hallo zusammen!

Der Bertelsmann-Bearbeiter Peter Korn hieß in Wirklichkeit Roland Gööck (1923-1991) und hat für Bertelsmann alle möglichen Sachbücher gemacht. So Zeug wie "Die 100 besten Rezepte der Welt". Eine Bearbeitung der GW waren seine May-Bände nicht, er hatte schon Fehsenfeld und Union zur Hand. Ich habe mich mit ihm so ca. 1977 auf der Frankfurter Buchmesse ein bißchen unterhalten. An die Kolportageromane hat er sich nicht rangemacht, das war aber auch vom Verlag nicht gewünscht.

allwanderer
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Re: Entsetzt über "Der Derwisch"

#13 Beitrag von allwanderer »

Man kann über die Bearbeitung von Karl-Mays-Werken diskutieren und streiten wie man will... ohne den Karl May Verlag und seine Bearbeitungen wäre Karl May schon längst vergessen. Ich bin wie die meisten KM-Leser/innen mit den Bearbeitungen aufgewachsen, mit KMV, Tosa, Bertelsmann etc. und habe erst relativ spät mit der "historisch kritischen Ausgabe", Zürcher Ausgabe oder den KMV Reprints angefangen und war natürlich überrascht, was und wieviel alles durch den KMVerlag geändert wurde. Aber Fakt bleibt: Durch die "Grünen Bände" fand ich zur Liebe zu Karl May und gerade die bearbeiteten Kolportageromane finde ich nicht schlecht, darunter auch den "Derwisch", der mich gut unterhalten hat.

SirDavid
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Re: Entsetzt über "Der Derwisch"

#14 Beitrag von SirDavid »

Rolf Dernen hat geschrieben:Der Bertelsmann-Bearbeiter Peter Korn hieß in Wirklichkeit Roland Gööck (1923-1991) und hat für Bertelsmann alle möglichen Sachbücher gemacht. So Zeug wie "Die 100 besten Rezepte der Welt". Eine Bearbeitung der GW waren seine May-Bände nicht, er hatte schon Fehsenfeld und Union zur Hand. Ich habe mich mit ihm so ca. 1977 auf der Frankfurter Buchmesse ein bißchen unterhalten. An die Kolportageromane hat er sich nicht rangemacht, das war aber auch vom Verlag nicht gewünscht.
Ja, richtig - über den Klarnamen war ich irgendwo bereits einmal gestolpert.
Wäre interessant, ob seine Bearbeitungen umfangreicher waren als jene des KMV; ähnlich wie einige Stimmen hier im Thread über die GW urteilen, muss ich auch Gööck zugestehen, dass seine Bearbeitungen mein erster Kontakt mit Karl May und sehr ansprechend zu lesen waren.
Von daher finde ich es durchaus schade, dass er sich nicht auch die Kolportageromane vorgenommen hat. Vielleicht wäre da ein großes Werk gelungen.
Die Bearbeitungen des KMV sind mir, was Waldröschen, Deutsche Herzen etc. betrifft, zu invasiv. Kürzen, Straffen, stilistisches Feilen - ok. Ganze Passagen neu zu schreiben, Charaktere zu eliminieren - das geht mir zu weit.

Gibt es eigentlich einen Verlag, der in unserer Zeit eigene, vielleicht weniger weitreichende Bearbeitungen der Mayschen Lieferungsromane vorgenommen hat?

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