Karl May - der fromme Psycholog

sandhofer
Beiträge: 96
Registriert: 28. Dez 2005, 20:26

Karl May - der fromme Psycholog

Beitrag von sandhofer »

Guten Morgen!

Meine ersten Karl-May-Bücher durfte ich ja nur lesen, weil der Lehrer meiner Mutter versicherte, May sei ein frommer und guter Mann gewesen. Da er selber fromm und gar Mitglied einer Sekte war (man frage mich aber jetzt nicht mehr, welcher!), galt sein Wort diesbezüglich etwas.

Ich muss allerdings gestehen, dass letzten Endes sowohl des Lehrers Bekehrungsversuche wie Karl Mays Frömmigkeit an mir abprallten. Ich hatte wohl schon als Neun- oder Zehnjähriger so etwas wie eine natürliche Imprägnierung gegen übertriebenes frommes Gehabe.

Nun scheint es allerdings modern zu werden, Karl May als den frommen Psychologen zu interpretieren. Beides will mir nicht einleuchten. "Psychologe" im Sinne eines, der seelisch-geistige Phänomene aufgrund einer logisch-wissenschaftlichen Klassifikation erfasst und beschreibt, war May sicher nicht. Was gemeinhin als "psychologisch" in seinen Schriften bezeichnet wird, ist nichts anderes als die jedem Romancier zuzuschreibende Eigenschaft, die Handlungen seiner Protagonisten mehr oder weniger glaubwürdig zu motivieren. Simpler Teil des Handwerks, sozusagen.

Und was seine Frömmigkeit betrifft, muss ich gestehen, je länger ich mich mit dem Alten beschäftige, desto weniger weiss ich, was ich auch in dieser Beziehung ernst nehmen soll. Seine frühen Opuscula im Stile Johann Peter Hebels atmen durchaus einen rational-aufgeklärten Geist. Für katholische Auftraggeber wischt er auch schon mal den Protestanten so nebenbei eines aus. Von seiner merkwürdigen Seelen(wanderungs)theorie mal ganz zu schweigen.

Wie weit ist diese Frömmigkeit also nicht einfach die Maske des Überängstlich-Angepassten ex-Sträflings? Eine Maske, die - das mag sogar sein - dem Träger zum Schluss sogar angewachsen ist.

Grüsse

Sandhofer
Rüdiger

Beitrag von Rüdiger »

Guten Tag.

(Herr Doktor, das ist schön von Euch ...)

In meinen Anmerkungen zu "Zwischen Himmel und Hölle" (Buch über Karl May und die Religion) habe ich unter http://www.karl-may-buecher.de vor kurzem u.a. folgendes geschrieben:

Es wird auch nicht verschwiegen, dass die Religiosität Karl Mays zwei Seiten hat: neben der echten, in positiver Weise manchmal durchaus naiv-kindlich wirkenden Gläubigkeit, die ihn doch wohl mehr oder weniger durch sein ganzes Leben begleitet haben wird, wird auch der Opportunist angesprochen, der sich, vorzugsweise in einigen der Marienkalender-Geschichten, gelegentlich gleichsam prostituiert hat, und Verlegern oder einfältigem Publikum nach dem Munde geschrieben. Seine Frömmigkeit kann aufgesetzt wirken, konstruiert, unaufrichtig. Und sie kann vollkommen echt und überzeugend daherkommen. Mal ist es so, mal so, es ist halt nicht einfach mit ihm, auch in dieser Hinsicht entzieht er sich jeder Schublade.

Grüsse

RW
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